Montag, 27. Juni 2016

Hier Europa bauen...



Der 1922 wegen seiner vernünftigen politischen Haltung von „Rechten“ ermordete deutsche Außenminister Walther Rathenau formulierte sinngemäß: „Ich kenne in Europa etwa einhundert Personen, welche selten an die Öffentlichkeit gehen. Das sind die sogenannten Wirtschaftskapitäne. Aber deren Entscheidungen sind häufig wesentlicher und wirksamer als jene von Regierungen.“ 

Wer meint, dass dieser Post mit den beiden vorhergehenden nicht verbunden ist, irrt sich. Als Fortsetzung zu beiden die Empfehlung, sich das kurze Video anzusehen: 
Danach in die nächste Buchhandlung zu gehen und sich oder bei Amazon das rororo-Taschenbuch „Der Oligarch“ (ISBN 3-499-61471-5) von Jürgen Roth zu bestellen. 
Er hat für das unveröffentlichte Manuskript die horrende Summe von 600.000 DM von ihm bisher nicht bekannten Interessenten aus Osteuropa geboten bekommen. 
Das Buch ist bereits 2002 erschienen, dürfte aber auch Ihnen unbekannt sein. In ihm kommt der ukrainische Oligarch Vadim Rabinovich zu Wort. Ich hatte das Taschenbüchlein vor längerer Zeit erworben, es verkramt und vergessen. Nun veranlasste mich das sehr eigenwillige Auftreten sonntags Abend des inzwischen auch in die Politik eingestiegenen Magnaten im ukrainischen Fernsehsender NEWS ONE, mich zu erinnern und zu suchen. Das hätte ich schon vor längerem tun sollen. Doch wie sagt man: „Lieber spät als nie.“ 
Denn Jürgen Roth bietet neben den Berichten zu Gesprächen mit dem Geschäftsmann viele Informationen aus anderen Bereichen wie Landes- und Bundespolizeidienststellen und deren Kollegen aus aller Welt. Gründlich belegt. Ein Lesegenuss schon deswegen. Dazu mit Akribie ermittelte Fakten zu eindeutig bestellten oder nur der Auflage wegen von den Schöpfern selbstgezogenen „Enten“ im Nachrichtenbereich. 
Nebenbei sagt unter anderem Rabinovich mit etwas anderen Worten sehr offen: „In meinen Blättern wird doch nichts veröffentlicht, was mir abträglich ist.“ 

Gestern Abend war es für mich so weit, den aufmerksamen und deutlich formulierenden Kritiker der offiziellen ukrainischen Politik in diesem Post auch anderen zu empfehlen. 
Zuerst, weil er auf eine diesbezügliche Frage fundiert antwortete: „Wenn der Finanzminister davon spricht, dass anstatt 5 Millionen Familien wegen der neuen Tarife für Gas, Energie und Wasser in Zukunft 7 Millionen Familien, also etwa die Hälfte aller Ukrainer Subsidien beantragen muss, ist das doch eine verfehlte Tarifpolitik – oder?“ 
Dann folgte eine Anekdote aus Odessa. „Die Briten haben erstmals erfahren, dass die Ukraine in die EU will. Da sind sie vorsichtshalber ausgetreten.“ 
Was sagte er zum Brexit? Mit seinen Worten – weil er ständig wegen der unterschiedlichen Fragesteller zwischen Russisch und Ukrainisch wechselt, kein Zitat, sondern der Sinngehalt: „Weil mich die Ukraine interessiert, sage ich nichts zur EU. Außer, dass sie mit dem Ausscheiden Großbritanniens viele zusätzliche Probleme bekommt. Wir haben damit in der EU einen Verbündeten gegen die russischen Machenschaften verloren – aber nur in diesem Sinne. Die politische Linie Englands wird dieselbe, es also an unserer Seite bleiben. Was jedoch ungünstig für uns ist, dass wegen der genannten Probleme unsere Vereinigung mit der EU verlangsamt werden wird. 
Wir sollten das aber anders sehen – so, wie ich es hier schon einmal sagte. Unsere Aufgabe ist es, in der Ukraine Europa aufzubauen. Um nicht als Bittsteller in die Gemeinschaft zu kommen. Dazu haben wir alle Voraussetzungen. Allerdings nicht bei der gegenwärtigen Regierung. Es wäre schön, wenn sich im Parlament 150 Personen fänden, welche ihr Mandat niederlegen. Dann gäbe es ein neues Parlament und eine neue Regierung.“ 

Es gäbe noch viel zu schreiben – nur habe ich keine Aufzeichnung der Frage-Antwort-Sendung. Merken Sie sich bitte den Namen und, wenn Sie ihn sehen können, auch den Mann. Denn wir werden von ihm noch zu hören bekommen. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





Freitag, 24. Juni 2016

Meinungsfreiheit



Über dieses verbundene Wort lohnt es sich, ganze dicke Bücher zu schreiben. Weil es zwei Begriffe enthält: Meinung und Freiheit. 
Der erste ist relativ eindeutig belegt – was eine Person zu einer Sache, einem Ereignis oder einem Vorgang meint (erwartet wird gewöhnlich eine mündliche oder schriftliche Äußerung), ist deren Meinung. Auf wissenschaftliche begründete Verrenkungen wird hier verzichtet. 

Dann kommt das Wort FREIHEIT. Es ist die Mohrrübe an der langen Gabel vor dem Maul des hungrigen Esels am Karren des Lebens. 
Denn in beliebiger Gesellschaft, in beliebiger Lebensform sind wir alle von irgendetwas oder irgendjemandem abhängig. Ebenfalls andere von uns. 

Nur wenigen ist es vergönnt, sich mit den Worten von Arthur Schopenhauer anzufreunden: „Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei.“   

Weil aber die – meist sehr unpersönlich, also ohne ein erforderliches Eigenschafts- oder Zweitwort vor allem von Politikern zitierte FREIHEIT – als ein vorrangiger zivilisatorischer Grundwert dargestellt wird, dessen Entzauberung eben von Schopenhauer schon im 19. Jahrhundert so deutlich formuliert wurde, sind Arthurs weiter oben zitierten Worte den meisten Personen unbekannt. 
Sie im Volk zu kennen ist sachlich gesehen unter den „Lenkern unserer Geschicke“ unerwünscht… Denn mit ihnen verliert auch die staatliche Unabhängigkeit – und nicht nur sie, sondern jede angeblich von allem anderen isolierte, sachliche Zusammenhangslosigkeit ihren Sinn – ist doch in der Welt alles miteinander verwoben. 

Unter Rückbesinnung auf meinen vorausgegangenen Post http://mein-ostblock.blogspot.com/2016/06/aufklarer.html geht es hier darum, was die Meinung einzelner Geschichtswissenschaftler zu den Büchern des für mich „Aufklärers“ Resun (Pseudonym Viktor Suworow) wert ist. 

Über den Wissenschaftler Galileo Galilei gibt es die Lehrmeinung (in der Schule verbreitet), dass er vor der ihn folternden Inquisition seine endgültige Meinung mit den Worten „Und sie bewegt sich doch!“ entgegen geschleudert habe. 
Sehen Sie bitte selbst unter Wikipedia nach, was davon historische Wahrheit ist. 
Es ist für mich der erstaunlichste deutliche und älteste Beweis von Unverantwortlichkeit und Tendenziosität in der Berichterstattung von Massenmedien. Sowie über wissenschaftliches Herangehen. 
Darauf, dass sich gegenwärtig auch in Deutschland die Unmutsbekundungen über häufig nicht den Tatsachen entsprechende Meldungen aus den Kriegsgebieten der Ostukraine häufen, will ich vorläufig nicht eingehen. Denn daran ändern auch spätere Berichtigungen nichts. 

Viktor Suworow legt die Aufforderung vor, sich sein eigenes Urteil zu historischen Vorgängen unter einem anderen Sichtwinkel zu bilden. Wie das auch schon der römische Imperator und Philosoph Marc Aurel vor etwa 1900 Jahren vorschlug: "Betrachte einmal die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bisher sahst, denn das heißt ein neues Leben beginnen.“ 
Der Italiener Thomas von Aquin sagte in diesem Zusammenhang: „Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, dass man ihn vom Irrtum zur Wahrheit führt.“ 

Historiker, welche unter Einfluss einer erdrückenden Anzahl unwiderlegbarer Fakten ihre Meinung nicht revidieren wollen, können am besten mit den Worten des französischen Dichters Honoré de Balzac charakterisiert werden: „Die Menschen, die sich rühmen, ihre Ansicht niemals zu wechseln, sind Toren, die an ihre Unfehlbarkeit glauben.“ 

Die von V. Suworow verfassten Bücher „Der Eisbrecher" sowie „Der Tag M“  beruhen im Herangehen unter anderem auf einem Zitat von Bismarck: „Wenn irgendwo zwischen zwei Mächten ein noch so harmlos aussehender Pakt geschlossen wird, muss man sich sofort fragen, wer hier umgebracht werden soll.“ 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger

P. S. vom 26.06.2016:

Der Satzteil "... dass er vor der ihn folternden Inquisition seine endgültige Meinung mit den Worten „Und sie bewegt sich doch!“ entgegen geschleudert habe." muss richtig heißen "... dass er der ihn folternden Inquisition seine endgültige Meinung mit den Worten „Und sie bewegt sich doch!“ entgegen geschleudert habe.  
Außerdem ist falsch, dass er dies den Folterern gesagt haben soll. Denn die Kommision selbst hat sich die eigenen Hände nicht blutig gemacht. Sie hat die Folter "lediglich" angeordnet. 
Sowie nicht nur aus der empfohlenen Literatur folgt, dass Hitler oder Stalin immer nur diejenigen waren, welche direkt oder indirekt die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt bis zur körperlichen Vernichtung "dringend empfohlen" oder direkt angeordnet haben. 
Alle Leser, welche diese Berichtigung noch später lesen als meine erste Version, bitte ich um Entschuldigung.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




 



Mittwoch, 22. Juni 2016

Aufklärer



Vor 75 Jahren begann die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs mit der von deutschen Generälen im Auftrage Hitlers vorbereiteten Aggression gegen die damalige Sowjetunion. 
Als ich vor 35 Jahren im ukrainischen Kriwoi Rog als Dolmetscher einer Gruppe von Technikern der Nationalen Volksarmee der DDR am Umschulungskurs auf das Transportflugzeug An-24 teilnahm, war ich an diesem Sonntag zum Angeln an einem idyllischen Waldsee eingeladen worden. Da meine Gastgeber am Gewässer ein kleines Picknick organisierten, um der Opfer des Krieges zu gedenken, war ich etwas beschämt – hatte ich doch dieses für die meisten Sowjetbürger historisch einschneidende Datum übersehen. 

Gestern habe ich zwei Dinge getan. Als erstes – in Russisch – die beiden Bücher des in unserem DDR-Sprachgebrauch als „Aufklärer“ bezeichneten Mitarbeiters des militärischen Abwehrdienstes der Sowjetunion zu lesen beendet. Viktor Suworow stellt in „Der Eisbrecher“ und „Der Tag M“ seine Sicht auf die Ursachen und Abläufe des Zweiten Weltkrieges dar. Für mich hat er damit Aufklärung geleistet. 
Erstmals habe ich die irrsinnige Arbeitsanspannung aller an der geheimen sowjwetischen Mobilmachung beteiligten Personen und Einrichtungen erfasst. Außerdem ebenfalls die menschenverachtenden Praktiken der damaligen politischen Führung. 
Dazu verhalf mir noch die „Secondhand-Zeit“ der vorjährigen Nobelpreisträgerin für Literatur Svetlana  Alexijewitsch. 

Die in „Wikipedia“ anzutreffende Einschätzung, dass beide erstgenannten Bücher geschichtlich unsachlich sind und Fehler enthalten, störte mich nicht. Denn ich hatte durch Zufall im Internet zuvor dieses folgende Video von Andreas Popp gesehen: https://youtu.be/J4rHWM8rEqI . Im dazugehörigen Text fand ich das mir bekannte Wort von Albert Einstein: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ 
Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass auch bei den Historikern das Festhalten an „ihrer Wahrheit“ (von ihnen veröffentlichter „Lehrmeinung“) dazu führt, dass sie unkritisch mit sich selbst andere Sichtweisen abweisen. 
Selbst wenn 10 % der von Suworow angeführten Fakten falsch sein sollten, sind die restlichen 90 % für mich ausreichend, zum dritten Mal im eigenen Leben angeblich „gesicherte Erkenntnisse“ (Ideologien, Weltsichten…) über Bord zu werfen und die Fragen anders zu stellen. 
So, wie es auch Andreas Popp empfiehlt. Mir reicht es ebenfalls, zu dem „anderen Volk“ zu gehören, welches sich die Volksvertreter über die Vermassungsmedien schaffen, wenn der dennoch aufgeklärte Bürger unbequeme Fragen stellt. 

Vor den genannten Büchern las ich die Erinnerungen von Skorzeny und Schellenberg, dazu das Buch über den als Soldat erfolgreichsten deutschen und als Persönlichkeit unbeugsamen Jagdfliegers Erich Hartmann  – aber auch die des als Soldat nach Stalins Tod aus der Roten Armee entlassenen sowjetischen Luftmarschalls Golowanow. 
Ihnen, die Sie diese Zeilen lesen, kann ich den von mir vollzogenen Sichtwechsel zwar empfehlen, aber nicht anweisen. Bitte lesen Sie zumindest die beiden auf Deutsch erhältlichen Bände – „Der Eisbrecher“ und „Der Tag M“. 
Selbst einem militärisch nicht „vorbelasteten“ und vor allem unvoreingenommenen Leser wird – mit etwas Mühe, der russisch-sowjetischen Grundlagen wegen – sich erschließen, dass es stimmt, was die Ukrainer hier scherzend formulieren: „Was ist der Unterschied zwischen Gott und den Historikern?“ Antwort: „Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern.“ 

Die Tatsache, dass auf Stalins Schreibtisch das Werk des sowjetischen Generalstabschef Marschall Schaposchnikow „Das Hirn der Armee“ von 1929 lag und er als einzige Person seiner Umgebung diesen Militär mit Vor- und Vatersnamen anredete, bewies mir, dass die in dem Werk geäußerten Vorstellungen zu Stalins Credo wurden. 
Etwas Ähnliches: Cato der Ältere widerholte vor dem römischen Senat bekanntlich bei jeder Gelegenheit etwa schon 150 Jahre v. Chr.: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden sollte.“ Diese beständige Kriegshetze führte zum Dritten Punischen Krieg mit Zerstörung Karthagos.    

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger






Mittwoch, 8. Juni 2016

Totensonnabend



In der Ukraine fiel der Ostersonntag diesmal auf den 1. Mai – etwas außergewöhnlich. Die Verwerfungen im Plan der Arbeitszeiten lasse ich beiseite. Denn es geht – wenn auch im Nachhinein – um den Ostersonnabend. 
Hier in der Stadt und auch auf dem Lande wurde er als Totengedenktag begangen. Es ist die sehr dem Leben zugewandte Denkart der Slawen, diesen Tag im Frühling zu begehen. Nicht wie der feuchte Novembertag, an welchem wir in Deutschland unserer Ahnen gedenken. Von dem Heinrich Heine im „Wintermärchen“ passend schrieb: „Im traurigen Monat November war's, die Tage wurden trüber…“ 
Außerdem ist der hiesige Gedenktag echt dem Leben zugewandt – wie ich nach 21 Jahren im Lande deutlich bemerke. 
Schon Wochen zuvor sieht man an und vor allen Märkten zusätzliche Verkaufsstände, an denen Papierblumen und Gebinde daraus feilgehalten werden. 
Mich verwunderte daheim, dass meine Ehefrau die Blüten aller gekauften Blumen mit veschiedenfarbigem Nagellack zusätzlich „dekorierte“. Erklärung: sie wolle nicht, dass diese von der Grabstelle entfernt und wiederverkauft würden! 

Ist der Feiertag gekommen, begeben sich die lebenden Familienmitglieder auf die Friedhöfe. Die kurz zuvor – meist eine Woche – in Ordnung gebrachten Grabstellen (Unkraut entfernen, Gitter streichen u. s. w.) werden mit den Papierblumen (immer streng in gerader Anzahl – zu anderen Anlässen werden immer Blumen mit ungerader Blütezahl überreicht) ausgeschmückt und vor den Grabsteinen wird etwas zum Essen (Brotscheiben bzw. ein Stück des „pas´cha“ genannte Osterkuchens, dazu ein gefärbtes Ei und Bonbons oder etwas Konfekt) als Gabe für den Verstorbenen abgelegt. Jeder Tote, auch die Frauen, bekommt ein kleines Glas Wodka beigestellt. 
Die Hinterbliebenen nehmen an den Gräbern einen kleinen (manchmal auch soliden) Imbiss ein, trinken einen Wodka ohne anzustoßen darauf, dass „die Erde ihnen leicht sei“ und gehen nach angemessener Zeit heim. 

Unsere „Zeremonie“ war in diesem Jahr etwas ereignisreicher. Wie in jedem Jahr, hatte die Polizei die Anfahrt zum Friedhof als Einbahnstraße gestaltet. Wir parkten in einer Lücke weit vor dem Parkfeld, das wir gewöhnlich aufsuchten. Deshalb sah ich auch zum ersten Mal eine beachtlich große Gruppe von Zigeunern, zwischen denen gefüllte Säcke standen oder lagen. Sie räumen von allen durch die Besucher verlassenen Gräbern die Grabbeigaben ab und verwenden vor allem Backwaren als Viehfutter. Dass der eine und andere vom geleerten Wodka schon Schlagseite hatte, ist ein Teilthema. 
Als ich am Eingang zum Friedhof einer wirklich bedürftig aussehenden Oma das Kleingeld aus meinem Taschengeld reichen wollte, bremste mich meine Natascha unsanft. „Nachher, beim Rausgehen. Oder willst du Eintritt bezahlen?“ 
Auf dem Weg zu den Grabstätten ihrer Eltern und Großeltern kam uns ein Priester in Ornat entgegen. Er wendete sich auf gleicher Höhe mir zu: „Guten Tag, Herr Siegfried, schön sie zu sehen. Vater Alexander – sie erinnern sich?“ Wir waren gemeinsam einmal von Berlin bis an die ukrainische Grenze in einem von der Kurie gekauften Kleinbus gefahren, welcher in Polen demontiert und danach bei ganz bedeutender Verringerung des Einfuhrzolls als „Ersatzteilspender“ in die Ukraine kommen sollte. Wir sprachen kurz miteinander – er war auf unserer Reise ein angenehmer Partner. 
Anschließend sah ich, wie eine offensichtlich sehr bejahrte, aber einsame Frau ihren Gedenktag begann. Offensichtlich nur im „Genuss“ einer schmalen Rente – vielleicht sogar unterhalb des staatlich fixierten Existenzminimums – ging sie mit einer einzigen  Papierblüte und einem Taschentuch mit winzigen Speiseinhalt zum Grab eines ihr teuren Menschen… 
Wir erfüllten an den Gräber unserer Verblichenen die traditionellen Pflichten. Noch während wir etwas aßen und tranken, streifte eine bejahrte Zigeunerin an den Gedenksteinen vorbei. Natascha bat sie sehr deutlich, ihre erkennbare Absicht erst nach unserem Fortgang zu vollenden… 

Auf Bitte meiner Frau änderten wir unseren Rückweg. Als erstes zeigte sie mir einen Gedenkstein, der so protzig war, dass ich erneut an die arme Frau auf dem Hinweg denken musste… Aber die große Überraschung kam, als ich auf der Hauptallee zu den Gräbern der in der Ostukraine vor Kurzem erst gefallenen Kämpfer aus Bila Tserkwa kam. 
Nicht umsonst hat die Stadt diesen ihren ehemaligen Bürgern einen besonderen, einen Ehrenplatz eingerichtet. Er ist nur mit dem Wort „würdig“ bestmöglich zu charakterisieren. Es bleibt zu hoffen, dass die Zahl der vorhandenen Gräber nicht weiter zunimmt. 
Mein Widerwille gegen jede Art militärischer Gewalt ist weiter gewachsen. Frei nach dem Satz: „Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder“ sind für mich ukrainische und russische Opfer eines von politischen Führern angezettelten militärischen Konflikts in der Doppelrolle Täter-Opfer zu bedauern. Denn die Organisatoren trifft es doch nicht… 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger