Samstag, 18. Februar 2017

Drei Verwundungen



Nicht jeder Tag hat vor allem interessante und freudige Ereignisse für uns bereit. Aber doch ist jeder Tag ein Erlebnis im Leben. Heute Morgen gingen wir wie immer spazieren. Schon von weitem erkannte ich, dass Natascha aus dem Heizhaus auf uns zuging. Denn sie lächelte über das ganze Gesicht. Wir begrüßen uns herzlich und sie fragte, ob ich denn bei der Glätte keine Furcht hätte hinzufallen. Mit ihr wäre das vor drei Tagen geschehen, sie habe sich dabei eine Rippe angebrochen. Ich bedauerte sie und wünschte ihr gute Besserung. Sie antwortete, dass ihr die Bewegung schon weniger Schmerzen bereitet. Und sie aufzuheitern erzählte ich ihr, wie mich gestern die Retriever-Hündin umgeworfen hatte. Sie lachte herzlich. Wir verabschiedeten uns bis zum nächsten Mal.
Nach einer Viertelstunde rief mich plötzlich eine Frau von hinten an: „Hallo junger Rentner, wohin wollen Sie denn?“ Ich drehte mich um. Denn an der Stimme hatte ich Ljuba nicht erkannt. Mit ihr waren wir vor langen Jahren einmal nach Deutschland gefahren – sie als unser Gast im Auto. Sie wohnt ganz in der Nähe, im sogenannten Privatviertel – das so heißt, weil dort viele kleine eigene Häuser stehen. Wir hatten einander lange nicht gesehen. Sprachen also darüber wie es uns geht. Sie klagte, dass sie gestern Morgen ausgerutscht und hingefallen ist. Habe sich dabei die Schulter verletzt, sodass sie beim Arzt eine Blockadespritze in die Schulter bekommen musste. Heute könne sie den Arm aber wieder bewegen. Sie hatte vom Markt Milch geholt, um ihre Enkelin einen Brei zu kochen. Ob ich denn keine Angst hätte, hinzufallen. Auch ihr erzählte ich die Sache mit der Hündin, was sie erheiterte. Ich bat sie ihren Partner zu grüßen und verabschiedete mich.
So hat die Straßenglätte zwischen unseren Bekannten schon ihre Opfer gefunden. Das versöhnt mich ein wenig damit, dass ich auch schon sechsmal gestürzt bin.

Fast am Ende unseres Spazierganges erkannte ich in dem entgegenkommenden Mann meinen Freund Pjotr Nikolajewitsch. Der 86 Jahre alte ehemalige Seemann trägt auch heute dichten Bart. Erstmals sah ich, dass er auf dem rechten Bein etwas hinkt. Nach unserer Begrüßung fragte er mich, ob wir einander nicht duzen könnten. Da er als älterer diesen Vorschlag machte, konnte ich ihm getrost annehmen. Er erklärte mir seinen Grund: wir Deutschen kennen doch den Vatersnamen nicht. Der wird ja hier häufig als Zeichen guter Freundschaft genutzt. Deshalb würde er mich einfach Siegfried nennen wollen. Da mein Vater Hermann hieß, habe ich Pjotr angeboten, mich auf Russisch Germanowitsch zu nennen. Er lachte und meinte, dass er an Siegfried schon gewöhnt sei.

Allerdings wollte ich anschließend wissen, weshalb er auf dem rechten Bein hinkt. Da erzählte er mir, dass er im Jahre 1942 als zwölfjähriger Einwohner dieser Stadt einer Gruppe Soldaten eine Furt durch den Fluss heraus zeigen sollte. Die etwa 30 Soldaten hatten die Aufgabe, dort einen Übergang für schwere Waffen der Sowjetarmee anzulegen. Er hätte dem dem sie führenden Unteroffizier geraten, in kleinen Grüppchen verteilt das Ufer entlang zu gehen. Der Mann mit Kampferfahrung hatte sich von dem zwölfjährigen nicht belehren lassen wollen. Er selber hätte die Abschüsse der Geschütze gehört, erinnere sich aber weiter an nichts. Aufgewacht war er im Lazarett. Dort erfuhr er, dass nur fünf Männer, darunter er, die deutsche Geschützsalve überlebt hätten. Er hatte Glück – ihm hatte nur ein Splitter ein Stückchen aus dem rechten Ohr gerissen und ein zweiter eine Wunde am rechten Knie verursacht. Dort ist er später heraus geeitert, hatte aber Veränderungen verursacht, die das leichte Hinken gegenwärtig begründen. Das hindert den alten Herrn aber nicht daran, ähnlich wie ich jeden Tag eine Spazierstrecke abzulaufen, die allerdings noch länger ist als meine. Er ist für mich ein Beispiel an Lebensmut.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger






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