Die Situation in
der Ukraine ist so unübersichtlich, dass
man sich darüber nur wundern kann. Viele Dinge sind äußerst widersprüchlich.
Was jedoch nicht verwunderlich ist – das ist das Wetter. Wir haben es jetzt bei
wenig Schnee mit Temperaturen um -5 °C zu tun. Da ist der Morgenspaziergang
angenehm. Allerdings ist auch die Not deutlicher zu sehen. Der Obdachlose, den
ich häufiger getroffen habe als es wärmer war, ist für einige Tage verschwunden
gewesen, als wir draußen -17 °C hatten. Ich weiß nicht wo er abgeblieben sein konnte.
Heute Morgen saß er zumindest wieder auf einer Bank, neben sich seine
bescheidene Habe in zwei großen Plastetaschen. Ich habe ihm das Kleingeld aus
der Hosentasche und einige Banknoten geschenkt. Ich hatte nur acht Hrywna
dabei, dafür konnte ich kein Brot kaufen – wie ich das vorgesehen hatte. In
Deutschland wären das etwa 0,30 € gewesen. Das ist eine kleine Summe, aber der
Mann braucht jede Kopeke. Unsere Freundin sagt immer: „Wir haben nicht das
Geld, um alle Not zu lindern. Wir können aber Tränen trocknen.“ Der obdachlose Mann
sieht aus wie 80 Jahre alt, ist aber knapp über 50. Habe ihn bei meiner ersten
Spende gefragt.
Auf dem Basar sind
wenig Käufer, aber wieder mehr alte Leute wie vor rund 20 Jahren, welche ihre
bescheidene Habe verkaufen wollen. Sie stehen in Ecken und bieten an, was sie
zu Hause entbehren können. Andere holen sich aus den Müllkübeln alles das an
Altstoffen, was sie in Sammelstellen abgeben können – für geringes Geld. Unter
ihnen sind nicht selten auch schon junge Leute.
Andererseits gibt
es im Fernsehen die Forderung danach zu kontrollieren, auf welche Weise viele
Abgeordnete, Richter und ähnliche Amtsträger zu ihren großen Geldbeständen,
Wohnungen und Grundstücken sowie anderen Aktiva gekommen sind, welche sie
deklariert haben. Obwohl sich das Antikorruptionskomitee und die
Generalstaatsanwaltschaft mit diesen Problemen beschäftigen, ist bis heute noch
selten jemand wegen deutlicher Korruptionsvorwürfe im Haft genommen oder vor
Gericht gestellt worden. Vieles hängt damit zusammen, dass die
unterschiedlichsten Personen miteinander verwandt oder verschwägert sind. Das
wird in Deutschland Vetternwirtschaft genannt. Ein ukrainischer
Fernsehjournalist hat dieses Verhalten das Fujijama- Syndrom genannt. Das
lautet etwa so: „ Dränge beim Aufstieg niemanden vor dir vom Weg. Denke daran,
dass du absteigen wirst.“ Anders ausgedrückt: jeder Ukrainer berücksichtigt,
dass auch er in unangenehme Situationen kommen kann und Hilfe von anderen
braucht.
Das allein jedoch
begründet keine Korruption. Vor rund 500 Jahren formulierte schon Margarethe
von Navarra: „Die geizigsten Wucherer lassen die schönsten und luxuriösesten
Glockentürme bauen in der Hoffnung, den Herrgott mit den für den Bau
aufgewendeten zehntausenden von Dukaten gnädig zu stimmen und ihm so die
hunderttausende zu vergelten, welche sie zusammengestohlen haben. Als ob Gott
nicht rechnen kann.“
Beim heutigen
Morgenspaziergang traf ich Vitali. Wir sprachen über unterschiedliche Themen. Kamen
aber über eins zu gemeinsamer Meinung: der hier von vielen häufig gebrauchte
Ausdruck „Ruhm der Ukrainer“ (Slawa Ukrainy) gefällt uns beiden nicht. Denn er
erinnert uns beide an die Vergangenheit, in welcher der Ausdruck „Ruhm der
Sowjetunion“ oder aber „Ruhm der KPdSU“ ebenso unangebracht gebraucht wurde. Außerdem
stimmte er mit mir überein, dass der deutsche satirische Dichter Lichtenberg Recht
hatte mit seiner Feststellung „Vertraue niemanden, der ständig die Hand aufs
Herz legt.“ Denn auch diese Geste hat in der letzten Zeit viel an
Glaubwürdigkeit verloren. Weil auch viele der Korruptionäre sie mit ehrlichem scheinenden
Augenaufschlag benutzen.
Bleiben Sie recht
gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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