Mittwoch, 15. Februar 2017

Verhaltensweisen

Die Situation in der Ukraine ist so  unübersichtlich, dass man sich darüber nur wundern kann. Viele Dinge sind äußerst widersprüchlich. Was jedoch nicht verwunderlich ist – das ist das Wetter. Wir haben es jetzt bei wenig Schnee mit Temperaturen um -5 °C zu tun. Da ist der Morgenspaziergang angenehm. Allerdings ist auch die Not deutlicher zu sehen. Der Obdachlose, den ich häufiger getroffen habe als es wärmer war, ist für einige Tage verschwunden gewesen, als wir draußen -17 °C hatten. Ich weiß nicht wo er abgeblieben sein konnte. Heute Morgen saß er zumindest wieder auf einer Bank, neben sich seine bescheidene Habe in zwei großen Plastetaschen. Ich habe ihm das Kleingeld aus der Hosentasche und einige Banknoten geschenkt. Ich hatte nur acht Hrywna dabei, dafür konnte ich kein Brot kaufen – wie ich das vorgesehen hatte. In Deutschland wären das etwa 0,30 € gewesen. Das ist eine kleine Summe, aber der Mann braucht jede Kopeke. Unsere Freundin sagt immer: „Wir haben nicht das Geld, um alle Not zu lindern. Wir können aber Tränen trocknen.“ Der obdachlose Mann sieht aus wie 80 Jahre alt, ist aber knapp über 50. Habe ihn bei meiner ersten Spende gefragt.
Auf dem Basar sind wenig Käufer, aber wieder mehr alte Leute wie vor rund 20 Jahren, welche ihre bescheidene Habe verkaufen wollen. Sie stehen in Ecken und bieten an, was sie zu Hause entbehren können. Andere holen sich aus den Müllkübeln alles das an Altstoffen, was sie in Sammelstellen abgeben können – für geringes Geld. Unter ihnen sind nicht selten auch schon junge Leute.
Andererseits gibt es im Fernsehen die Forderung danach zu kontrollieren, auf welche Weise viele Abgeordnete, Richter und ähnliche Amtsträger zu ihren großen Geldbeständen, Wohnungen und Grundstücken sowie anderen Aktiva gekommen sind, welche sie deklariert haben. Obwohl sich das Antikorruptionskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft mit diesen Problemen beschäftigen, ist bis heute noch selten jemand wegen deutlicher Korruptionsvorwürfe im Haft genommen oder vor Gericht gestellt worden. Vieles hängt damit zusammen, dass die unterschiedlichsten Personen miteinander verwandt oder verschwägert sind. Das wird in Deutschland Vetternwirtschaft genannt. Ein ukrainischer Fernsehjournalist hat dieses Verhalten das Fujijama- Syndrom genannt. Das lautet etwa so: „ Dränge beim Aufstieg niemanden vor dir vom Weg. Denke daran, dass du absteigen wirst.“ Anders ausgedrückt: jeder Ukrainer berücksichtigt, dass auch er in unangenehme Situationen kommen kann und Hilfe von anderen braucht.
Das allein jedoch begründet keine Korruption. Vor rund 500 Jahren formulierte schon Margarethe von Navarra: „Die geizigsten Wucherer lassen die schönsten und luxuriösesten Glockentürme bauen in der Hoffnung, den Herrgott mit den für den Bau aufgewendeten zehntausenden von Dukaten gnädig zu stimmen und ihm so die hunderttausende zu vergelten, welche sie zusammengestohlen haben. Als ob Gott nicht rechnen kann.“
Beim heutigen Morgenspaziergang traf ich Vitali. Wir sprachen über unterschiedliche Themen. Kamen aber über eins zu gemeinsamer Meinung: der hier von vielen häufig gebrauchte Ausdruck „Ruhm der Ukrainer“ (Slawa Ukrainy) gefällt uns beiden nicht. Denn er erinnert uns beide an die Vergangenheit, in welcher der Ausdruck „Ruhm der Sowjetunion“ oder aber „Ruhm der KPdSU“ ebenso unangebracht gebraucht wurde. Außerdem stimmte er mit mir überein, dass der deutsche satirische Dichter Lichtenberg Recht hatte mit seiner Feststellung „Vertraue niemanden, der ständig die Hand aufs Herz legt.“ Denn auch diese Geste hat in der letzten Zeit viel an Glaubwürdigkeit verloren. Weil auch viele der Korruptionäre sie mit ehrlichem scheinenden Augenaufschlag benutzen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger







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